„Das Ungarndeutschtum kann deutlich mehr Erfolge als Misserfolge verzeichnen”




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LdU-Interview mit Dr. Michael Józan-Jilling
zu Ehren seiner staatlichen Auszeichnung

Dr. Michael Józan-Jilling, Internist und Kardiologe, Mitglied der Vollversammlung und Beirat für soziale Angelegenheiten der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen sowie Vorstandsvorsitzender des Verbandes Deutscher Nationalitätenselbstverwaltungen im Komitat Tolnau erhielt am 15. März 2021 das Ungarische Goldene Verdienstkreuz für die Erweiterung der deutsch-ungarischen Gemeindepartnerschaftsbeziehungen und sein langjähriges Engagement in der Pflege und Bewahrung der deutschen Volksbräuche und in der Interessenvertretung der in Ungarn lebenden deutschen Nationalität.

Jozan-Jilling

Lieber Herr Dr. Józan-Jilling, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Auszeichnung! Sie gehören zu den ersten Pionieren, die das öffentliche Leben der Ungarndeutschen nach der politischen Wende organisiert und eigentlich ins Leben gerufen haben. Wie empfanden Sie damals das Interesse für diese Angelegenheit? Welche Initiativen konnten anfangs erfolgreich umgesetzt werden?

Vielen Dank für die Glückwünsche und allen voran möchte ich sagen, dass jetzt zwar nur ich diese Auszeichnung entgegengenommen habe, was aber nur deshalb möglich war, weil ein, aus vieler Hinsicht stabiles Seksarder, Tolnauer Team hinter mir steht, ohne das ich alleine niemals so viel erreicht hätte. Dieses Team besteht nunmehr seit den 1990er Jahren, und ich denke, auch unseren Mitarbeitern gilt somit der Dank. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir bereits unmittelbar nach der Wende, bei den ersten Kommunalwahlen 1990 mit einer eigenen deutschen Liste antraten und zeitnah auch den deutschen Nationalitätenverein der Stadt Seksard gegründet haben. Damit gehörten wir auch landesweit zu den Pionieren dieser Zeit. Unsere erste Großveranstaltung war ein Pfingstfestival im Mai 1991. Unser legendäres Trio Szendrei-Hepp-Józan gibt es also schon seit damals, später kam auch noch Krémer hinzu (sic. Michael Szendrei, Adam Hepp und Dr. Michael Józan-Jilling waren die ersten Vorstandsmitglieder des Deutschen Nationalitätenverein der Stadt Seksard, später trat auch Georg Krémer in den Vorstand ein). Wir haben schon damals versucht, alle gesetzlichen Mittel wahrzunehmen, und das hat natürlich auch von Außerhalb Aufsehen erregt. 1992 wurde ein sog. „Schwäbisches Lakitelek” (sic. in Lakitelek trafen sich im September 1987, noch während des ungarischen sozialistischen Kádár-Regimes oppositionelle Intellektuelle zum Ideenaustausch) in der Gemeinde Tengelic abgehalten, das war praktisch die erste öffentliche, landesweite Versammlung von den bis dahin gegründeten und den sich damals noch in der Gründungsphase befindlichen deutschen Nationalitätenvereinen. Dieses Treffen war ein Meilenstein für uns, Ungarndeutsche: Die damals formulierten Grundsätze sind bis heute gültig. Sie besagten, dass die Ungarndeutschen ein Netzwerk an eigenen Selbstverwaltungen auf der Basis der Kulturvereine aufstellen sollten. Die rechtliche Grundlage sicherte dazu eigentlich erst das 1993 verabschiedete Minderheitengesetz. Unser Ziel war schon damals die kulturelle Autonomie und Bildungsautonomie, wozu als Mittel das Netzwerk von ungarndeutschen Selbstverwaltungen erschaffen wurde. Wir waren damals die Organisatoren und Gastgeber dieses Treffens. Die damaligen und späteren Leiter der ungarndeutschen Gemeinschaft waren damals alle anwesend.

Sie waren damals schon als praktizierender Arzt tätig. Weshalb hielten Sie es trotzdem für wichtig, neben Ihrer Arbeitsstelle auch solchen ehrenamtlichen Tätigkeiten nachzugehen?

Wir waren alle optimistisch, beflügelt von der Wende. Ich war damals ein junger Assistenzarzt mit zwei abgeschlossenen Facharztprüfungen und wurde in die Deutsch-Ungarische Kardiologengesellschaft aufgenommen – wo ich bis heute regelmäßig an den Fortbildungen im Fachbereich Herz- und Kreislaufforschung teilnehme, und somit meine Mitgliedschaft seitdem ununterbrochen aufrechterhalte; ich bin bis heute sehr dankbar für diese Möglichkeit von damals. Neben der Arbeit im Klinikum und meinen eigenen Forschungen im Bereich der Nuklearmedizin konnte ich meinen freiwilligen Verpflichtungen im ungarndeutschen Bereich nur so nachkommen, dass ich auf eine Privatpraxis verzichtet habe, nur auf dieser Weise konnte ich für meine gemeinnützige Arbeit etwas Freizeit schaffen.

Auf welche Errungenschaften sind Sie besonders stolz?

Die ersten Wahlen der Minderheitenselbstverwaltungen fanden im Dezember 1994 statt. Noch im selben Jahr wurden die deutschen Minderheitenselbstverwaltungen in der Tolnau gegründet – so u.a. auch die in der Stadt Seksard – in insgesamt 11 Gemeinden des Komitates. Das war eine tolle Leistung. Gesetzlich war damals die Gründung einer Selbstverwaltung auf Komitatsebene noch nicht möglich, ganz besonders stolz bin ich jedoch darauf, dass wir – übrigens als erste im ganzen Land – im Januar 1995 mit Anton Rittinger als Vorsitzenden den Verband der Deutschen Minderheitenselbstverwaltungen der Tolnau gründen konnten. Wir waren damals davon ausgegangen, dass der Zusammenschluss der örtlichen Nationalitätenselbstverwaltungen vom Gesetz nicht verboten, und vom Gesetz über die Selbstverwaltungen aus dem Jahr 1990 bereits zugelassen wurde. Wir wurden auch vom Gericht eingetragen. Das war wirklich ein „Tolnauikum”, ein Präzedenzfall, wenn man so will, und nach unserem Vorbild wurden schließlich auch in anderen Komitaten solche Verbände gegründet, die als Interessenvertretungen und als wichtige Akteure bei den Wahlen bis heute eine bedeutende Rolle spielen.

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Wie sehen Sie das öffentliche Leben der Ungarndeutschen im Kontext der vergangenen 30 Jahre? Wie ist diese Gemeinschaft, die sie aktiv mitgestaltet haben?

Wir haben sehr viel erreicht. Im April 1995 wurde unter der Leitung von Dr. Jenő Kaltenbach erstmals die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen gegründet. Moch im selben Jahr wurde im September Lorenz Kerner zum Vorsitzenden gewählt. In diesem Kabinett war ich als zweiter Vorsitzender für rechtliche Angelegenheiten tätig und habe die Unterstützung eines äußerst soliden Ausschusses genossen. Auf diese Zeit lässt sich vieles datieren: das Komponieren der Volkshymne der Deutschen in Ungarn, auch unser Wappen wurde derzeit erschaffen, die höchste Auszeichnung, die Ehrennadel in Gold für das Ungarndeutschtum gegründet und die Landesgala ins Leben gerufen, wo wir die eben genannte Auszeichnung seit jeher jährlich verleihen. Zu jener Zeit wurde auch die Verordnungsregelung der Ausschussstruktur der LdU erschaffen, die größtenteils bis heute in der ursprünglichen Form gültig ist. Die genannten Vorschläge haben unser Ausschuss und auch ich persönlich der Vollversammlung unterbreitet. Ab 1998 wurde dann Otto Heinek zum Vorsitzenden der LdU gewählt. Mit seiner Person verknüpfe ich absolute Professionalität, und mit unserem Kennenlernen begann eine Freundschaft auf Lebenszeit zwischen uns. Auf seinen Vorschlag habe ich begonnen, mich mit sozialen und gesundheitlichen Angelegenheiten unserer deutschen Gemeinschaft zu beschäftigen – und das mit größter Freude. Wir haben zum Beispiel ein sehr erfolgreiches Projekt namens „Essen auf Rädern“ gestartet, in dessen Rahmen sich Gemeinden mit Sozialeinrichtungen für Kleinbusse für soziale Zwecke bewerben konnten. Auch weitere Initiativen haben wir durchsetzen können, wie die Ausstattung von Seniorentagesheimen oder den Ausbau eines häuslichen Notrufsystems, wir konnten bei der Besorgung von Defibrillatoren behilflich sein, haben Wiederbelebungskurse und regelmäßige Fortbildungen im sozialen Bereich abgewickelt – und noch vieles mehr. Also kann ich behaupten, wenn ich jetzt auf diese vergangenen 30 Jahre zurückblicke, dass unsere Erfahrungen zwar gemischt sind, wie das halt immer so ist, aber ich denke, das Ungarndeutschtum kann heute deutlich mehr Erfolge als Misserfolge verzeichnen. Beim Start hatten wir zum Beispiel nicht einmal eine einzige Bildungseinrichtung – weder lokal, noch landesweit – unter unserer Trägerschaft. Heute haben wir über ein Netzwerk an hervorragenden Bildungs- und Kultureinrichtungen. Seit 2014 sind wir, Ungarndeutsche im ungarischen Parlament vertreten: Die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten sind also gegeben. In der Tolnau und auch landesweit übernehmen langsam talentierte Jugendliche die Stafette. Als Arzt kann ich nach dem Motto „ora et labora” für uns alle nur hoffen, dass wir diese äußerst gefährliche Pandemie bald hinter uns haben werden und wir bald wieder an unseren Veranstaltungen zusammenkommen können.

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Michael Józan-Jilling wurde 1952 in Paks in eine ungarndeutsche evangelische Familie aus Jerking hineingeboren. Nach dem Abitur am Lajos-Nagy-Gymnasium in Fünfkirchen bewarb er sich für ein Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Pécs, wo er sein Medizinstudium 1976 mit Diplom abgeschlossen hat. Danach kam er nach Seksard, wo er in der Zentralklinik im Komitat Tolnau eine Stelle antrat, die er bis heute innehat. Als Kardiologe – Internist – leitender Oberarzt leitete er bis 2017 die Internistischen Abteilung Nr. 1 der Zentralklinik im Komitat Tolnau in Seksard. Derzeit arbeitet er im Bereich der kardiologischen Rehabilitation und der ambulanten Versorgung. Zwischen 1993 und 2017 war er Fachoberarzt der Inneren Medizin des Komitates Tolnau und Mitglied der Deutsch-Ungarischen Kardiologengesellschaft – im Beirat deren war er drei Zyklen hindurch als Mitglied tätig. Zwei Zyklen hindurch war er als für organisatorische Angelegenheiten verantwortlicher Sekretär der 1994 gegründeten Ärztekammer des Komitats Tolnau.

1990 nahm er an der Gründung des Deutschen Nationalitätenvereins der Stadt Seksard teil und wurde zum Sekretär gewählt. Er ist Gründungsmitglied des Seksarder Ungarisch-Israelischen Freundeskreises und seit 1998 Vorstandsmitglied dieser Organisation. Unter seiner Leitung und auf seine Initiative wurde das Theaterstück „Tagebuch der Anne Frank“ in Ungarn erstmals in der Deutschen Bühne Ungarn in Seksard uraufgeführt. Er spielte und spielt bis heute eine bedeutende Rolle in der Gründung, Aufrechterhaltung und Gestaltung der Gemeinde- und Regionalpartnerschaftsbeziehungen zwischen Seksard und Bietigheim-Bissingen, sowie zwischen dem Komitat Tolnau, dem Main-Tauber-Kreis und der Stadt Bautzen (D).

Er spielte und spielt bis heute eine bedeutende Rolle in der Gründung, Aufrechterhaltung und Gestaltung der Gemeinde- und Regionalpartnerschaftsbeziehungen zwischen Seksard und Bietigheim-Bissingen, sowie zwischen dem Komitat Tolnau, dem Main-Tauber-Kreis und der Stadt Bautzen (D).

Nach den Kommunalwahlen 1990 wurde er zum Gesandten der Seksarder Ungarndeutschen in der städtischen Selbstverwaltung, in diesen Jahren war er zudem auch im Demokratischen Verband der Deutschen in Ungarn als Kongressabgeordneter und danach als Mitglied des Nationalkomitees tätig.

1994 wurde er bei den Kommunalwahlen zum Vorsitzenden der Deutschen Nationalitätenselbstverwaltung der Stadt Seksard gewählt. Den Posten bekleidet er bis 2019. Seit 1995 ist er Vorstandsvorsitzender des Verbandes Deutscher Minderheitenselbstverwaltungen im Komitat Tolnau, zwischen 2006 und 2014 war er Vorsitzender der Deutschen Selbstverwaltung der Tolnau. Seit der Gründung 1995 – und auch gegenwärtig – ist er Mitglied der Vollversammlung der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, wo er zwischen 1995 und 1999 als zweiter Vorsitzender tätig war.

1995 erhielt er den Bezerédj-Preis, 2008 erhielt er die Gedenkplakette Pro Urbe der Stadt Seksard, 2014 den László-Batthyányi-Strattmann-Preis.

Er ist mit der Ärztin Dr. Hilda Rasch verheiratet, sie haben zwei erwachsene Söhne.

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