Junge Rezitatoren erkennen über die deutschsprachige und ungarndeutsche Literatur eigene Wurzeln und gemeinsames Erbe
Der Weg zur eigenen Identität ist in der Regel ein langwieriger und unterliegt ständigem Wandel und Veränderungen. Zumal Begriffe und Kategorien wie „Identität“, „Nationalität“, „Volkszugehörigkeit“ und „Staatsangehörigkeit“ Jugendlichen allenthalben aus dem Politikunterricht bekannt sind. Diese Begriffe mit Inhalt zu füllen ist daher ein zentrales Anliegen von Elternhaus und Schule. Einen besonderen Stellenwert genießt diese Frage bei Jugendlichen, die in Mischehen geboren sind und die sich die Frage stellen: Wer bin ich? Wie definiere ich meine Identität? Die Gegend um Moor – Mór im Komitat Weißenburg ist eine multiethnische, wobei das ehemalige deutsche Marktflecken und alte – neue Kreisstadt zu einem bedeutenden Zentrum der deutschen Minderheit in Ungarn gehört. Hier gilt es, Wege und Möglichkeiten zu finden, die Jugendlichen bei ihrem Weg zur eigenen Identität zu begleiten.
Es ist 10: 00 Uhr an diesem Wintermorgen, 66 Schülerinnen und Schüler warten gespannt auf ihren großen Auftritt im Moorer Mihály – Táncsics – Gymnasium. Für einige ist es das erste Mal, andere sind bereits schon zum wiederholten Male dabei. 66 Jugendliche (Grundschüler und Gymnasiasten) aus Moor und Umgebung, die alle ihren eigenen Zugang zur deutschsprachigen Literatur gesucht und gefunden haben.
Zwei von ihnen sind Soma Góbi (Sándor – Petőfi – Grundschule Moor, Jg. 8) und Krisztián Horváth (Mihály-Táncsics-Gymnasium Moor, Jg. 10). Soma hat sich für ein modernes Gedicht mit dem Titel „Quiz“ entschieden, Krisztián für das klassische Gedicht „Der reiche Mann“ des österreichischen Literaten Alois Blumauer, der im 18. Jahrhundert wirkte. „Ich war aufgeregt und gleichzeitig neugierig, auch wenn ich nicht zum ersten Mal an diesem Rezitationswettbewerb teilgenommen habe“, äußert sich der Gymnasiast nach dem Ende der Veranstaltung. „Diese Veranstaltung stärkte mein Selbstbewusstsein und weckte bei mir sowas wie einen Kampfgeist“, unterstreicht der Schüler aus Csákvár.
Für Soma war diese Veranstaltung, die vom Regionalbüro der Landesselbstverwaltung der
Ungarndeutschen, der Deutschen Selbstverwaltung Moor und vom Verband der Deutschen Selbstverwaltungen im Komitat Weißenburg organisiert wurde, die erste derartige in seinem Leben. Dennoch zeigte sich der Schüler, dass es ihm gelungen ist, zum tieferen Sinn des modernen Gedichts vorzudringen. Er belegte bei den Achtklässlern, wie Krisztián bei den Gymnasiasten, den ersten Platz und darf am 23. März in Wieselburg – Ungarisch Altenburg im Regionalwettbewerb Westungarn sein Können unter Beweis stellen.
Eine Aufgabe, die gerade die Mundartrezitatoren fordert. In der Sprache der Groß- und Urgroßeltern ein Gedicht aufzusagen, ist eine echte Herausforderung und gleichzeitig eine riesige Chance. „Dieser Wettbewerb bietet den Jugendlichen, sich nicht nur nur mit den linguistischen Besonderheiten der deutschen Sprache und der Mundart zu beschäftigen, sondern auch mit der Literatur. Sie wählen unter anderem auch Werke der ungarndeutschen Literatur, was uns sehr freut“, unterstreicht im Gespräch Elisabeth Négele – Erdei, Fachschaftsberaterin für den Nationalitätenunterricht, die zusammen mit Maria Sing – Ivanics durch den Vormittag führte und anschließend die Preise überreichte.
Die Chance besteht darin, über die deutschsprachige Literatur (und insbesondere über die ungarndeutsche Mundartliteratur) zu neuen Erkenntnissen und Einsichten zu gelangen. Einsichten, die einem auch helfen sollen, zur eigenen Identität zu gelangen. Zu einer Identität, die heute zwar zu einer res privata geworden ist, ständigem Wandel unterworfen ist, aber die in unserer schnelllebigen Welt für den Jugendlichen Halt bieten kann und soll.